Wenn der Nerv getroffen wird

16. Jan 2024

Auf dem Zahnarztstuhl ist es nicht so schön. Ich meine: wenn der Nerv getroffen wird. Da merkt man erst einmal, wie lebendig so ein Zahn ist!

Außen herum die harte Schale, aber innen ein äußerst empfindlicher Kern. So sind wir wohl auch.
Außen herum haben wir ein dickes Fell und darüber noch den Anorak. Aber innen sind wir verletzlich. Gerade deswegen wird bei manchem der äußere Schutz zu einem regelrechten Panzer. Ich versuche nichts an mich heran kommen zu lassen und mir nichts anmerken zu lassen.

Aber es gibt Ereignisse, die dennoch tief in mein Innerstes vordringen. Sie treffen meinen Lebensnerv. Das kann eine Eisblume sein oder ein orangeroter Sonnenaufgang, eine schlimme Nachricht oder ein schönes Lied, ein altes Foto oder eine nette SMS oder das Mitgefühl mit einem Freund. Etwas, das mir plötzlich nahe geht, sei es Trauer oder Freude, es lässt meinen Lebensnerv mitschwingen. Dann merke ich wieder, dass ich lebe. Wenn aber die Mauern so dick werden, dass nichts mehr hindurch dringt und ich in mir kein Klingen mehr spüre, weder Singen noch Klagen, dann werde ich leblos, obwohl ich noch lebe.

Jeden Tag können wir um zwölf die Glocken läuten hören. Ihr Ton dringt durch Mauern und durch die Geräusche der Stadt, durch mein Fenster und bis an mein Innenohr. Und dann passiert es immer wieder – nicht jeden Tag, aber immer wieder – dass in mir etwas zum Klingen kommt. Ich vergesse für einen Moment alle Fakten und Pflichten um mich herum und lausche den Glocken. Und ich horche auf mein Innerstes. Wie klingt es da drin? Ist es Trauer oder Freude? Ist es Verzweiflung oder Mut? Ist es Enttäuschung oder Hoffnung? Und oft mündet das Horchen in ein Stoßgebet. Ich flüstere: Danke, guter Gott! Oder: Hilf, Herr, meiner Seele!

Ich glaube, dass Gott es ist, der unser Innerstes zum Klingen und Schwingen bringt. Er will uns auf den Nerv gehen und uns treffen, wo wir empfindlich sind. Nicht das Abgeklärte und Abgebrühte oder die ausgehärtete Schale interessieren ihn, sondern unser innerstes Wesen: die Wut, die Enttäuschung, die Sehnsucht und unser Glaube. Dort will Gott uns berühren. Vielleicht spüren Sie es auch, wenn die Glocken demnächst wieder klingen oder etwas Ihren Nerv trifft.

Gottes Segen wünscht
Arnulf Kaus