Ein steinerner Durstlöscher. Von Kirchen und Gebetswänden

10. Jun 2022

Gebetszettel sind ein Sinnbild für ein altes Verlangen – den Durst nach dem lebendigen Gott, wie es in Psalm 4 heißt. Keine Frage: Gott begegnet überall. Und trotzdem geht von den alten Gemäuern eine besondere Atmosphäre aus.

Von meinem Büro aus sehe ich die vielen Menschen, die besonders im Sommer in die St. Petri Kirche in Thale gehen. Manche biegen zaghaft um die Ecke und nähern sich langsam der sperrangelweit geöffneten Tür. Andere gehen zielstrebig hinein, so als hätten sie diesen Besuch schon lange geplant. Meine Gedanken schweifen ab: Was zieht diese Person wohl in die Kirche? Neugier? Die Aussicht auf Kühle und Ruhe? Oder ein Moment alleine mit Gott?

Wenn die Menschen schon längst die Kirche wieder verlassen haben, dann bleibt mir zumindest eine Idee davon zurück, was den einen oder die andere hineingeführt hat. Denn dort in der Kirche steht, wie an vielen anderen Orten auch, eine Gebetswand. In diesen Monaten lese ich dort immer wieder die Bitte nach Frieden. Oder von der Sehnsucht nach Heilung für schwerkranke Herzensmenschen. Vom Dank für erfüllte Zeit. Von der Hoffnung auf eine Arbeitsstelle. Der Platz auf den Notizzetteln ist begrenzt. Welche Geschichten hinter den wenigen Worten stecken, lässt sich nur erahnen. Für mich sind diese Gebetszettel ein Sinnbild für ein altes Verlangen – den Durst nach dem lebendigen Gott, wie es in Psalm 4 heißt.

Keine Frage: Gott begegnet überall. Und trotzdem geht von den alten Gemäuern eine besondere Atmosphäre aus. Sei es die kleine Kapelle irgendwo im Nirgendwo, die große Kathedrale am ersten Platz der Stadt oder die Kirche im Dorf. Menschen vieler Generationen haben darin bereits gebetet, ihr Herz ausgeschüttet und Tränen der Erleichterung vergossen. Sie haben sich mit ihren Anliegen an Gott gewandt – und manchmal nur Schweigen gehört. Gut möglich, dass sie auch ein zweites Mal kamen. Denn im Blick zurück haben sie dann doch Gottes Spuren in ihrem Leben festgestellt. Meine Sehnsucht nach Gott verbindet sich in den bergenden Mauern von Gotteshäusern mit dem sehnsüchtigen Suchen unzähliger Menschen vor mir. Mein Durst ist dort gut aufgehoben.

Sommerzeit ist Reisezeit, der Alltag ist unterbrochen. Büros und Schulhöfe sind verwaist; Eisdielen und Badeseen haben Hochkonjunktur – ebenso wie die geöffneten Kirchen. Klar, man schaut sie sich als historische Orte an. Andererseits: Auch auf Reisen nimmt man seinen Alltag mit: Menschen, die einem nicht aus dem Kopf gehen, Zukunftsfragen, das Herzklopfen vor einer Entscheidung. Nicht nur, aber auch in Kirchen haben sie einen Raum. Sei es auf Gebetszetteln, im Seufzer oder einem strahlenden Lächeln. Und wer weiß: Vielleicht wird der Durst gelöscht.

Saskia Lieske


Dr. Saskia Lieske

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