Grenzschicksale

13. Mai 2023

Thale/MZ

Wie eine Perlenkette wertvoller Biotope mit Altgrasfluren, Busch- und Waldparadiesen, Sümpfen und Heiden fädelt sich entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze von der Ostsee bis zum Fichtelgebirge ein Grünes Band. Vom todbringenden Grenzstreifen hat sich das Grüne Band zu einer Lebenslinie entwickelt. Ines Godazgar traf sich für ihr am Donnerstag, 11. Mai 2023, vorgestelltes Buch „Grenzschicksale – Als das Grüne Band noch grau war“ mit 30 Zeitzeuginnen und -zeugen, die von ihrem Leben an und mit der früheren deutsch-deutschen Grenze erzählten. Bei der Buchpremiere fehlten zwei der Protagonisten; Brocken-Benno und der Veckenstedter Maler Karl Oppermann. Beide starben kurz nach der Fertigstellung der Manuskripte.

Was das Buch auszeichnet: Die Akteure stammen aus unserer unmittelbaren Umgebung, fast keine herausgehobenen Prominenz, sondern Menschen von nebenan. Sie bestechen durch ihre Nahbarkeit und belegen,
wie unterschiedlich die Menschen mit dieser lange als unabänderlich geltenden Grenze umgingen. Die Erinnerungen addieren sich so zu einem Kaleidoskop der Schicksale links und rechts des Eisernen Vorhangs, sagt Maik Reichel, der Chef der mitherausgebenden Landeszentrale für politische Bildung. „Naturgemäß häufig erschreckend, brutal oder tragisch, mindestens so oft aber auch bewegend, detailreich und spannend, oft sogar klug und weise“, urteilt Mitherausgeberin Birgit Neumann-Becker, Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Das 2,1 Kilo schwere Werk bewegt emotional stark, zeigt es doch auch die martialischen Zeugen der Vergangenheit. 343 Kilometer „DDR-Staatsgrenze West“, auch wenn die unterdessen die Grundfarbe Grün tragen und gut abzuwandern und zu radeln sind, erinnern heute aber vorrangig auch an mindestens 68 Todesopfer. Die Thalenser Pastorin Ursula Meckel will nicht vergessen, wie das Schicksal von Volker und Thomas ihre Gemeinde nachhaltig erschütterte. Die Jungen, damals 15 und 16 Jahre alt, wollten gemeinsam aus der DDR fliehen. In ihre roten Rucksäcken hatten sie auch ihr Kinderspielzeug gepackt. Sie wurden schon in Wernigerode gefasst und zurückgeschickt. Beim zweiten Versuch schlossen sie sich in der Toilette eines Interzonenzuges ein, wurden entdeckt, ins Gefängnis gesteckt. Volker wählte dort den Freitod. Pfarrerin Ursula Meckel war bei der Trauerfeier dabei und spricht von ihrer „ohnmächtigen Wut“.

1989 musste sie dann in ihrer Gemeinde einen jungen Mann beerdigen, der angeblich beim Versuch, über die Oder zu schwimmen, starb. Meckel hat sich viel und intensiv an der Aufarbeitung der DDR-Geschichte beteiligt. Ausgehend von ihrer Sozialisation in diesem Land fordert sie im Ost-West-Dialog: „Wir müssen über unsere Unterschiede sprechen.“
Maike Glöckner gelingen stimmige Fotos der viele Akteure des fast 600seitigen Buches aus dem Verlag Jànos Stekovics, die bewusst schwarz-weiß gehalten sind.

Die Herausgeber betonen, dass ihr Buch sich den Menschen widmet, die als Bewohner des „Sperrgebietes“ in unmittelbarer Nähe der innerdeutschen Grenze wenig im Fokus stehen. Sie lebten mit ihren Passagierscheinen „gleichsam doppelt eingesperrt“. Das Unrecht dort sei selbst damaligen DDR-Bürgern im ganzen Ausmaß nicht geläufig gewesen.

Ines Godazgar trifft bei ihrem Zeitzeugenprojekt aber ebenso auf Jakob Proft aus Schauen bei Osterwieck, Jahrgang 2003, der sich immer frei in alle Himmelsrichtungen bewegen durfte, dem egal ist, ob jemand aus Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt stammt und sich am Schulprojekt zur Pflege eines Grenzdenkmals beteiligt. Der gebürtige Quedlinburger Hendrik Voigtländer, der im Walzwerk Thale Elektromonteur gelernt hatte und dann „im damals reichsten Betrieb des Bezirkes Halle, dem VEB Saat- und Pflanzenzucht,“ arbeitete, wollte mehr von der Welt sehen. Beim Versuch an der bulgarisch-türkischen Grenze in den Westen zu gelangen, fasste und inhaftierte man ihn.

An und mit der früheren deutsch-deutschen Grenze Lebende erzählen aus ihrem ganz persönlichen Blickwinkel ihre Grenz- und Grenzergeschichten. Immer wieder geht es dabei um das Grenzausbildungsregiment „Martin Hoop“, wo in der „Knochenmühle“ und „Knollenburg“, wie ehemalige Grenzsoldaten wie Holger Jancke und Ralf Knapp berichten, junge Männer für den direkten Grenzdienst geschliffen wurden.

Hötensleben und der Brocken, den Brocken-Benno später 9000fach bestieg, bilden immer wieder Kulminationspunkte des Erzählens. Wer genau liest, der spürt den Pragmatismus, der zuweilen das Leben am Grenzstreifen prägte; ob es um den Braunkohleabbau über Staatsgrenzen hinweg war oder der dörfliche Alltag. Andreas Weihe, heute Chef des Heimatvereins Abbenrode, spricht über „das Wechselspiel von Tradition und Staatsmacht“: Grenzsoldaten und Schützenfest gehörten gleichermaßen zu seiner Welt.

„Grenzschicksale – Als das Grüne Band noch grau war“, Verlag Jànos Stekovics, 2023, 592 Seiten, ISBN 3899234502, 32 Euro

Text und Foto: Uwe Kraus

Ines Godazgar und Ursula Meckel im Gespräch bei der Buchpräsentation

Grenzschicksale
Landeszentrale politische Bildung