„Tränen lügen nicht…“

05. Aug 2022

Tränen sind nichts, das versteckt werden müsste – weder die des Schmerzes – noch die der Trauer – weder die der Rührung noch die Freudentränen glücklicher Augenblicke.

„Reiß dich zusammen – heule nicht!“ – das sind Botschaften, die die meisten Menschen von ihrer Kindheit an begleiten. „Entschuldigen Sie, dass ich weinen muss.“ höre ich zuweilen bei Besuchen. Tränen sollen versteckt werden. Sie scheinen ein Grund sich zu schämen. Leiden – Trauer – Schmerz – es sieht so aus als sei es peinlich, davon heimgesucht zu werden in einer Gesellschaft, in der es zum guten Ton gehört, stark, gesund, dynamisch und cool zu sein.
Traurige Leute werden als Zumutung empfunden und deswegen gemieden oder sie isolieren sich selbst.
Dabei weiß ich: „Menschen können kaum noch jubelnde Freude empfinden, weil sie verlernt haben, in die Tiefe der Klagen und des Schmerzes hinabzusteigen.“
Von Jesus wird mehrfach erzählt, dass er sich seiner Tränen nicht schämte, dass er seinen Gefühlen – auch seiner Angst – freien Lauf ließ. Und offenbar schuf er eine Atmosphäre um sich, die es anderen ermöglichte, in seiner Gegenwart zu weinen.
In der Bibel gibt es ein Buch mit dem Titel „Klagelieder“. Der Verfasser hatte so etwas wie eine Hölle durchgemacht, die Zerstörung seiner Heimat und der Familie durchlitten. Er wendet sich an Gott und nach und nach findet er Worte für alles, was ihm auf der Seele liegt – er betet.
Er beschönigt nichts, weicht der Wirklichkeit nicht aus durch Vertuschen oder Verdrängen oder Herunterspielen. Er lässt sich auf keine Vertröstungen ein. Indem er das tut, verliert das Grauen seine Macht über ihn. Er hat es ausgesprochen, hat Bilder für seine Gefühle gefunden.
Dabei passiert es, dass die ausgesprochene Klage ihn verändert – ihn – nicht die Situation! Das Sortieren dessen, was ihn belastet, hat Platz gemacht für anderes. Es kommen ihm Erinnerungen, die Kräfte wecken. Kräfte, die unter der Angst verschüttet waren. Es wird ein Weg der Auseinandersetzung geschildert mit sich selbst und mit Gott.
Leiden ist weder eine Strafe noch eine Prüfung, noch ein Grund sich zu schämen. Tränen sind nichts, das versteckt werden müsste – weder die des Schmerzes – noch die der Trauer – weder die der Rührung noch die Freudentränen glücklicher Augenblicke.
Tränen sind Ausdruck dessen, was uns im Innersten bewegt – sie können helfen, starke Gefühle besser zu verkraften, uns zu ent - lasten.

Ursula Meckel