Die Wurzel trägt uns

19. Aug 2022

Manchmal ist es schwer, den anderen auszuhalten. Stillschweigen ist jedoch nicht die bessere Wahl.

Menschen, die einander nahestehen, streiten sich (auch). Mal geht es um eine Kleinigkeit. Und dann wird es stürmisch. Leidenschaftlich. Denn das Ganze, das Tragende wird berührt. Das, was die Partnerschaft zusammenhält. Das, was die Gemeinde prägt. Das, was die Kinder für ihr gutes Recht halten. Immer wird das Innere berührt. Aus Leidenschaft schlagen die Wellen hoch. Unversehens werden aus einander nahestehenden Menschen Kontrahenten.
Soweit, so gut, so schwierig und so anregend.

Doch dann kann es plötzlich um Sieg oder Niederlage gehen. Etwa das Gefühl: Ich! Bin! Mehr! Dann liegt Aggression in der Luft.
So war es in Rom, in der neu entstandenen Gemeinde.

Den Brief, den Paulus an die römische Gemeinde schreibt, finden wir in der Bibel. Daher kennen wir die strittigen Positionen. In Rom sagt man: Wir sind sehr weit im Verstehen, denn wir glauben an Christus und an Gott. Wir sind weiter als die Juden; wir sind mehr.

Dagegen schreibt Paulus: Seht das Ganze. „Nicht ihr tragt die Wurzel, die Wurzel trägt euch“. Durch die Wurzel nimmt der Baum alles auf, wodurch er wachsen kann. Paulus beschreibt den Baum: ein Olivenbaum, der uralt wird. Dem können neue Zweige aufgepfropft werden, um Frucht hervorzubringen. Also ist das Ganze, das Tragende, bereits vorhanden, schon lange vor Entstehen der Christenheit.

Wurzel und Stamm für Christen ist es, auf Gott zu hoffen. Der lebendige Baum ist alles Denken über Gott und das Sprechen mit Gott, was durch Israel bekannt ist. Durch Abraham, der ins Unbekannte aufbricht. Durch Hiob, der widersteht.

Also: Die Wurzel trägt euch, versorgt den Baum, dessen Zweige ihr seid. Also: Natürlich habt ihr unterschiedliche Positionen. So wie Zweige eines Baumes unterschiedlichen Platz haben. Aber keine Position hat den größeren Wert.

Aus dem Wissen um den Lebensbaum, der uns verbindet, sollten unsere Gespräche kommen, unser gegenseitiges Befragen, unser gemeinsames Studieren. Das nächste Projekt. Manchmal ist es schwer, den anderen auszuhalten. Stillschweigen ist jedoch nicht die bessere Wahl.

Uns ist überliefert, dass Jesus sagt: „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden, was wollte ich lieber, als dass es schon brennt“ (Lukas 12, 49). Hinein also ins Risiko der Begegnung. Segen dafür!

Der kommende Sonntag (21. August 2022) ist für die Kirche der Israel-Sonntag; jährlich gibt dieser Sonntag Anstoß, miteinander unterwegs zu sein – in höchster Verantwortung und geschenkter Offenheit.

Hannah Becker