Vergebung heißt nicht Schwamm drüber

03. Sep 2022

Niemand ist perfekt – das ist kein Freispruch, sondern eine Einsicht, aus der Verantwortung erwächst.

„Wir sind alle kleine Sünderlein“ – so sang Willy Millowitsch in den 1970er Jahren. Sünde begegnet so in der Umgangssprache. Schmackhaftes, aber fettiges Essen zählt zu den häufigen Diätsünden. Egal ob im Auto, auf dem Rad oder zu Fuß – viele sind schon mal zu Verkehrssünderinnen geworden. Und wenn man nur lang genug wartet, wird auch fast jede Modesünde der Vergangenheit wieder modern. Die Rede von der Sünde kommt harmlos als kleine Nachlässigkeit daher. Schließlich ist niemand perfekt. Aber gerade weil niemand perfekt ist, fügen Menschen einander ziemlich regelmäßig Schaden zu: Sei es durch Worte, Untreue, Achtlosigkeit oder Gemeinheiten – von Gedanken ganz zu schweigen, die der andere nicht gleich mitbekommt, aber die über kurz oder lang den Blick auf den Mitmenschen verändern. Was im Sprachgebrauch harmlos daherkommt, hat oft konkrete Folgen, die in ihrer Tragweite nur schwer abzuschätzen sind.

„Wir sind doch alle kleine Sünderlein.“ – warum also den eigenen Verfehlungen zu viel Gewicht beimessen? Häufig passiert es, dass man das Wissen darum zur Seite schiebt und weitermacht, als wäre nichts gewesen. Fast schon störend sind jene Momente, in denen sich das Wissen um die eigenen Verfehlungen wieder ins Bewusstsein schleicht. Andererseits: Wer sich die eigenen Sünden eingesteht, der bekommt vielleicht auch das zu hören: Gott vergibt Sünden. Im Gottesdienst, in der Beichte und im Nachtgebet wird dies Menschen zugesagt. Gott spricht Menschen frei – von begangenen Fehlern, von Lieblosigkeit im Umgang mit Menschen und Umwelt, vom rücksichtslosen Blick auf sich selbst oder von verletzenden Worten. Wie ein roter Faden ziehen sich Begegnungen durch die Bibel, bei denen Gott Menschen neue Anfänge ermöglicht und sie nicht auf ihre Vergangenheit reduziert.

Wenn Gott vergibt, heißt das nicht „Schwamm drüber! Alles halb so wild! Macht nix!“, gerade weil es eben was macht, wenn andere durch die scharfen Schwerter von Wörtern verletzt werden oder vor lauter Empörung aus Menschen nur noch Holzschnitte werden. Gott vergibt, die Schuld ist damit jedoch nicht aus der Welt geschafft. Ganz im Gegenteil: Häufig wird der Umgang mit ihr zu einer Lebensaufgabe, weil Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann. Aber das einzugestehen und weder klein- noch wegzureden, kann manchmal schon ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg der Versöhnung mit Mitmenschen sein. Niemand ist perfekt – das ist kein Freispruch, sondern eine Einsicht, aus der Verantwortung erwächst.

Saskia Lieske

Dr. Saskia Lieske

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