10. Nov 2023
Ein Friedhof ist ein geschäftiger Ort. Besonders jetzt in diesen Wochen. Es gibt ein Kommen und Gehen, es wird mit Harke und Gießkanne hantiert, man trifft Bekannte …
Am Wochenende werde ich das Grab meiner Eltern für den Winter fertig machen. Tannenzweige, Winterheide, eine Christrose und als Farbtupfer zwei Alpenveilchen. Ich werde mir Zeit nehmen. Ich werde vor dem Grabstein stehen, ihre Namen und Geburtsdaten lesen, ein Gebet für sie sprechen. Und ich werde mich wieder wundern über den Grabstein ein paar Gräber weiter. Er trägt als Überschrift: „Begrenzt ist das Leben, doch unendlich die Erinnerung.“ Jedes Mal, wenn ich das lese, denke ich: Was da steht, ist falsch. Andersherum wird ein richtiger Gedanke daraus. Denn begrenzt ist die menschliche Fähigkeit, sich zu erinnern; meine Erinnerungen jedenfalls verblassen leider Gottes viel zu schnell. Aber ewiges Leben? Das gibt es.
Das sind meine Gedanken. Zugleich weiß ich, dass die Gedanken derer, die schlimm trauern, andere sind. Sie haben den Tod vor Augen und den sehnlichen Wunsch im Herzen, die Erinnerung möge nie verblassen. Ich frage mich: Was ist ewiges Leben für sie?
Manches bleibt ja wirklich. Goethes Osterspaziergang. Luthers „Hier stehe ich ...!“. Van Goghs Sonnenblumen. Bachs „Jauchzet, frohlocket!“. Auch das Kuchenrezept der Großmutter wird bis zur Generation der Urenkel weitergegeben. Nur: Bleibt es auch ewig?
In einen Grabstein in der Reihe dahinter haben Angehörige einen anderen Satz eingravieren lassen: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ Der Satz stammt aus der Bibel, Christus sagt das in einer seiner Abschiedsreden. Ich frage mich: Was denken die darüber, die auf ihrem Grabstein lesen, das Leben sei begrenzt? Ob sie den Horizont erkennen, den Jesus uns damit eröffnet?
Ein Friedhof ist ein geschäftiger Ort. Besonders jetzt in diesen Wochen. Es gibt ein Kommen und Gehen, es wird mit Harke und Gießkanne hantiert, man trifft Bekannte, fragt sie, wie es ihnen geht, erzählt vom eigenen Leben. Es werden auch Tränen geweint. Und es wird an offenen Gräbern die Auferstehung Jesu verkündet.
Gehe ich vom Grab meiner Eltern wieder fort, lasse ich wieder ein paar meiner Erinnerungen zurück. Und bin mir dabei sicher: Erinnerungen dürfen verblassen. Denn das Leben bleibt.
Jürgen Schilling