Jom Kippur vor einem Jahr

10. Okt 2020

Was sollten wir wissen von der Religion unserer Mitbürger? Und was sollten wir nicht nur wissen sondern auch beherzigen?

Im Prozess gegen den Synagogen-Attentäter in Halle im Herbst des vergangenen Jahres soll, laut Wikipedia, eine Polizistin ausgesagt haben, sie wisse gar nicht, was „Jom Kippur“ sei. So heißt der jüdische Feiertag, an dem das Attentat geschah. Natürlich ist das eine Aussage, die, wie eine Redewendung sagt, „so völlig in Ordnung geht“. Man braucht in Deutschland keine bösen Absichten zu hegen, um von Feiertagen welcher Religion auch immer keine Ahnung zu haben.

Vielleicht ist das auch ein Erbe des bis heute viel gespielten Songs von John Lennon aus dem Jahr 1971: „Imagine, … no religion…“ – „Stell dir vor, es gäbe keine Religionen“. Das Sich-Wegdenken von Dingen, die Probleme machen könnten und Verantwortung erfordern, hat seitdem Schule gemacht. Sicher muss man fragen, wer die Polizistin ausgebildet hat und sie dann ohne einschlägige Kenntnis aus einem zeitgemäßen Ethik- oder Religionsunterricht in einer Stadt eingesetzt hat, in der es eine Synagoge gibt – in Deutschland immer besonders zu schützende Gebäude jüdischer Gemeinden, gerade auch an deren Feiertagen.

Aber die Frage stellt sich an jede und jeden in diesem Land: Was sollten wir wissen von der Religion unserer Mitbürger? Und was sollten wir nicht nur wissen sondern auch beherzigen? Wie gesagt: Nichtwissen ist nicht das größte Problem im Umgang mit Gläubigen in einer Gesellschaft, die sich treu an John Lennons Vision hält: „Imagine, there’s no heaven“ – „Stell dir vor, es gibt kein Himmelreich“.

Wir dürfen den Nächsten auch gerne sein lassen, was er will, ohne seinen Glauben im Detail zu kennen. Aber Nichtwissen ist halt auch keine Nebensächlichkeit. Es darf erwartet werden, dass ich informiert bin, was mein Nachbar glaubt, wenn er dafür angegriffen wird und dafür eines besonderen Schutzes bedarf, der in einem freien Land mit gut informierten Bürgerinnen und Bürgern eigentlich überflüssig sein sollte. Und dieses Informiert-Sein darf auch nicht etwas sein, was wir getrost der Polizei überlassen. Es ist wie eine Pflicht, Bescheid zu wissen.

„Jom Kippur“ heißt „Versöhnungstag“. Schon mit dem hebräischen Namen des Festtages wird etwas deutlich, was immer für alle Gewicht hat – auch wenn man selbst „religiös unmusikalisch“ ist.


Christoph Carstens
Pfarrer in Quedlinburg und Westerhausen