Ist uns der Anstand abhanden gekommen?

11. Jul 2020

In der „Rüpel-Republik“ lebt es sich ganz komfortabel. Wenn man selber Rüpel ist. Für die anderen ist das nicht so angenehm.

Im Moment sortiere ich Bücher. Und da fiel mir eins in die Hände,das ich vor einiger Zeit schon gekauft hatte. Der Titel hatte mich neugierig gemacht. „Die Rüpel-Republik“…

Ich denke, jeder hat sich schon über das unangemessene Verhalten von jemand anderem geärgert. Wer Zug fährt, ist nicht immer begeistert darüber, halbe Lebensgeschichten hautnah über das Smartphone mitzuhören. Peinlichkeiten, die man seinen engsten Freunden nicht erzählen möchte, die aber ein ganzer Zug mitverfolgen kann. Gepäck auf drei anderen Sitzen verteilt, sollen die anderen doch zusehen, wo sie sitzen, ich war ja vorher da. Nein, es ist erst mal wichtig, dass ich zuerst aussteige, deshalb habe ich mich mit meinem Fahrrad auch schon reichlich vor Erreichen des Bahnhofs in den Gang gestellt. Sie wissen, wovon ich rede.

Möglicherweise hat es das alles immer schon gegeben. Der Unterschied zu heute scheint mir zu sein, dass Menschen, darauf angesprochen, sich heute eher nicht betreten ertappt fühlen, sondern sich mit Nachdruck verteidigen und rechtfertigen.

Also: In der „Rüpel-Republik“ lebt es sich ganz komfortabel. Wenn man selber Rüpel ist. Für die anderen ist das nicht so angenehm.

Ich frage mich, was ist da passiert in der Gesellschaft? Wieso haben wir oft den Eindruck, sie wird nicht solidarischer, sondern das Ich spielt eine größere Rolle. Sicher, in Zeiten von Corona wird auch Solidarität sichtbar, Gott sei Dank. Aber es gibt eben auch das andere.

Menschen begegne ich, die nur noch fordernd auftreten, aggressiv, auch mit Worten. Die sich ungefragt nehmen, was ihnen sowieso gehört. Die sich zum Spezialisten, zur Spezialistin erklären. Die wissen, wie die Dinge zu geschehen haben. Die es auch besser wissen. Die sich über Dinge hinwegsetzen oder über Autoritäten.

Das sehe ich im Großen, aber auch in meinem persönlichen Umfeld. Und ich erlebe es auch in der Kirche. Richtig ist, was ich für richtig erkläre. Gut ist, was ich für gut halte. Und wenn es das Gegenüber nicht versteht, muss ich eben lauter werden und mir Gehör verschaffen.

Das macht das Leben zuweilen anstrengend. Für die Rüpel und für die anderen. Und so verstehe ich, dass manche sagen, mit Abstand in den vergangenen Wochen war es auch ganz schön. Da hatte ich wenigstens meine Ruhe.

„Die Rüpel-Republik“ von Jörg Schindler ist ein interessantes und lesenswertes Buch. Werden im Anfangsteil einzelne Rüpel-Geschichten erzählt, geht es im mittleren Teil darum, warum wir solche Rüpel geworden sind wie wir sind, und im letzten, wie wir wieder netter werden können.

Dann, am Ende des Buches, war ich überrascht. Es scheint mit dem Glück zu tun zu haben. Im Königreich Bhutan im Himalaja gibt es ein „Bruttonationalglück“. Schon seit den 1970er Jahren. Inzwischen gibt es sogar ein Ministerium für Glück. Obwohl Bhutan zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, erklären sich zwei Drittel der Bhutaner als glücklich. Fragen Sie mal die Menschen in Europa oder in den USA. Dort steht auch das Streben nach Glück in der Verfassung. Das Glück, die Zufriedenheit, sie wachsen nicht, wenn der Wohlstand wächst. Im Gegenteil.

Ich möchte auch nach Bhutan. Ja, ich habe mich schon mal informiert, wie man hinkommt. Bhutan hält als Wert eine starke Gemeinschaft hoch. Von der wir in Europa oder in den USA derzeit nur träumen können, weil wir schnell feststellen, wie rasant sich alles auseinander entwickelt: Werte, Beziehungen, Kontakte…

Und solange ich noch nicht in Bhutan bin: da nehme ich meine Zufriedenheit und mein Glück selber in die Hand. Das ist allemal besser als irgendwie wütend zu sein. Schönen Sonntag!


Thomas Dammann, Gemeindereferent in der katholischen Pfarrei St. Mathilde Quedlinburg