Sehen und Nichtsehen

19. Okt 2019

Blind für etwas sein ist eine bekannte Redewendung. Dieses Nicht–wahr–haben–wollen soll schützen vor Dingen und Situationen, die Menschen für unerträglich halten.

„Hey, bist du blind?“ Diese ärgerlich gestellte Frage hat fast jeder schon einmal gehört oder auch ausgesprochen und natürlich war sie nicht ernst gemeint. Da hat einfach jemand nicht aufgepasst oder etwas übersehen.
Sehen und Nichtsehen hat nicht nur etwas mit der Sehkraft der Augen zu tun.
Blind für etwas sein ist eine bekannte Redewendung. Dieses Nicht–wahr–haben–wollen soll schützen vor Dingen und Situationen, die Menschen für unerträglich halten.
„Das kann ich gar nicht sehen“ heißt es und bedeutet eigentlich: Das will ich nicht sehen, das will ich nicht ertragen. Das ist gut nachvollziehbar. Es gibt Katastrophen und Verhaltensweisen und Ungerechtigkeiten, die sind einfach unerträglich – die Zeitungen und die anderen Medien sind voll davon. Ich kann verstehen, wenn weggesehen wird, nicht hingesehen, weil diese Form der „Blindheit“ Schutz ist gegen Schmerz und Wut, Angst und Hilflosigkeit.
Bloß, es hilft nichts, wegsehen verändert nichts, die es betrifft, müssen es auch aushalten: Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen; Kinder, die am Verhungern sind; Menschen, die getötet werden; Tiere, die gequält werden in unserem Land.
Es gibt vieles, das ich nicht sehen will.
Von Jesus wird erzählt, dass er einen Mann sehend gemacht hat und damit hat er ihm allerhand zugemutet. Auf der einen Seite hat er ihm neue Welten gezeigt, Farben und Licht, die Schönheiten der Natur – und auf der anderen Seite manches an Unannehmlichkeiten, an unübersehbaren Ungerechtigkeiten. Der Mann kann jetzt nicht mehr sagen: Das habe ich nicht gesehen. Das wusste ich ja gar nicht.
Jesus hat den Mann von seiner Blindheit befreit und ihn mit dieser Fähigkeit losgeschickt in eine Umgebung, die ihm nicht nur freundlich gesonnen war.
Sag, was Du siehst, schau hin, lass Dich nicht verunsichern.
Es lohnt, darüber nachzudenken: Was will ich nicht sehen – und warum nicht – und wie kann ich dazu kommen, die mir geschenkten Sinne und Fähigkeiten auszunutzen und einzusetzen, um richtig zu sehen und zu hören, hinzusehen, hinzuhören und daraus Konsequenzen zu ziehen:
Sich für Veränderungen einzusetzen, mit anderen zusammen Wege zu suchen, die zusammenführen, mit dafür einzustehen, dass Menschen menschlicher miteinander und mit der Schöpfung umgehen.
Sich nicht entmutigen zu lassen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, dafür braucht es Kraft und Hoffnung – und Zuspruch, den wir uns allein nicht geben können. Dazu die Gewissheit, nicht allein zu sein bei diesem Bemühen. Dazu ist der Glaube nötig und hilfreich. Der Glaube an Jesus, der nicht will, dass uns Menschen Hören und Sehen vergeht, sondern der es erst ermöglicht.

Ursula Meckel, Pastorin im Kirchenkreis Halberstadt