Nähe wagen

08. Jun 2019

Nicht nur zu Pfingsten um den Heiligen Geist bitten, der vor gut 2000 Jahren die Jünger von Jesus nicht nur tröstete, sondern auch half, deren Einsamkeit zu durchbrechen.

Nähe wagen!

Pfingsten. Für viele Menschen ein langes freies Wochenende. Zeit für eine Unternehmung: Wandern, Fahrradfahren, Grillen mit der Familie oder den Freunden. Wenn man denn welche hat. Als Krankenhausseelsorger beobachte ich seit Jahren, dass die Einsamkeit zunimmt. Alte Menschen bekommen immer weniger Besuch – oder gar keinen. Jüngst habe ich in dieser Zeitung gelesen, dass die Zahl der Bestattungen, die vom Ordnungsamt organisiert werden müssen, zunimmt, weil es keine Verwandten gibt. Wie traurig, wenn keiner am Grab steht, der das Leben des Verstorbenen kannte, Leidenschaft, Sorgen und Freuden teilte.
Es mag viele Gründe für die um sich greifende Vereinsamung geben, die auch schon Jugendliche betrifft. Wo Stärke und Individualität zum Ideal erhoben wird, gehen Bindungen verloren. Im Zirkus der Narzissten steht der Einzelne im Mittelpunkt und spricht mit seinem Spiegelbild. Das scheint vielleicht leichter, als sich mit einem echten Gegenüber zu befassen?
Offensichtlich erleben wir hier auch ein Echo der gesellschaftlichen Umbrüche nach 1989, als die Menschen der Arbeit hinterherziehen mussten, Heimat und Eltern zurückließen. Die sind nun alt – ein Besuch aus Stuttgart ist nicht jedes Wochenende zu realisieren. Was tun?
Zunächst einmal den Schmerz spüren, dass uns wirklich etwas verloren geht. Dann den oben beschriebenen Selbstbespiegelungs-Spiegel abhängen und Kontakte suchen und pflegen. Ins Gespräch kommen über Ideen, die neuen Zusammenhalt organisieren und dies auch politisch wertschätzen und fördern: Familien, Mehrgenerationenwohnen, Dorfgemeinschaften, Sportvereine, Chöre, Kirchengemeinden.
Und: nicht nur zu Pfingsten um den Heiligen Geist bitten, der vor gut 2000 Jahren die Jünger von Jesus nicht nur tröstete, sondern auch half, deren Einsamkeit zu durchbrechen. Die sich nach dem Tod und der Himmelfahrt Jesu ermutigen ließen, wollten nicht allein bleiben, haben ihre Häuser verlassen, Gemeinschaft gesucht. In der Pfingstgeschichte wird sogar erzählt, dass unterschiedliche Sprachen keine Rolle mehr spielten. Die Menschen haben erlebt, dass sie die anderen verstanden haben und auch selbst verstanden wurden. Was für ein schönes Rezept gegen die Einsamkeit. Also: Komm, Heiliger Geist!

Pfarrer Matthias Zentner